Medizinische elektrische Geräte müssen hohen Sicherheitsanforderungen genügen, bevor sie eine Marktzulassung erhalten. Es sind Hightech-Produkte, in denen die Performance der einzelnen Komponenten genauestens aufeinander abgestimmt ist. Eine detaillierte Beschreibung des Produktdesigns, mit der genauen Definition und Dokumentation aller verwendeten Komponenten ist die Grundlage der Prüfung und Zertifizierung. Für kritische Komponenten – von denen es in modernen aktiven Medizinprodukten viele gibt – braucht es zudem separate Prüfnachweise.
Was nun, wenn die für das Produkt vorgesehenen Komponenten am Ende eines jahrelangen Entwicklungsprozesses nicht mehr am Markt verfügbar sind? So geht es gerade vielen Herstellern von medizinischen elektrischen Geräten. Sie spüren die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die stockenden Lieferketten. Das verursacht Verzögerungen bei der Auslieferung und somit zusätzliche Kosten und Umsatzeinbußen bei den Medizinprodukte-Herstellern.
Aktuell ist nicht absehbar, wie lange die Situation anhält oder welche Herausforderungen in Zukunft noch auf uns zukommen. Unser Experte empfiehlt daher, sich flexibel auf Lieferengpässe bei Zubehörteilen wie elektronischen Komponenten oder Halbleiterprodukten einzustellen. Im Interview erklärt er, wie sich Hersteller auch für zukünftige Herausforderungen wappnen können.
Niemand kann sagen, wie lange die aktuellen Lieferschwierigkeiten anhalten oder welche Herausforderungen in Zukunft noch auf uns zukommen. Ich appelliere daher an die Hersteller, schon bei der Produktentwicklung mehrere Alternativkomponenten mit zu planen.
RALF SCHÖNSTEINERHerr Schönsteiner, die Lieferengpässe machen den Herstellern aktiver Medizinprodukte gerade sehr zu schaffen. Welche Produkte betrifft das genau?
Aktive Medizinprodukte sind inzwischen hochkomplexe Hightech-Geräte mit zahlreichen kritischen Komponenten. Daher würde ich sagen, dass es nahezu jedes Produkt betrifft.
Die kritischen Komponenten sind das Problem, denn sie sind nicht flexibel austauschbar und machen bei einigen Produkten einen hohen Anteil des Geräts aus. Es sind Produkte wie Netzteile, Platinen, Sicherungen, Lithium-Ionen-Akkus oder Converter, die ein Gefährdungspotential für Patient:innen verursachen können. Diese elektrischen Zubehörteile benötigen schon im Vorfeld eine gesonderte Zertifizierung nach den zutreffenden Normen und die dazugehörige Dokumentation.
Warum können Hersteller nicht frei unter den zugelassenen Komponenten, die am Markt verfügbar sind, wählen? Können Sie uns die Hintergründe näher erläutern?
Bei der Anwendung medizinischer elektrischer Geräte geht es neben den Leistungsmerkmalen der klinischen Funktionen um die Sicherheit der Patient*innen, respektive die Sicherheit und Gesundheit der Anwender oder ggf. Dritter. Daher sind die normativen Vorgaben ganz klar: Wenn sicherheitskritische Bauelemente verbaut werden, müssen sie den anwendbaren und zutreffenden normativen Sicherheitsanforderungen entsprechen. Abhängig von der Prüfgrundlage sowie den entsprechenden Zielmärkten und zutreffenden Anforderungen der Länder, gilt es für Hersteller die Nachweise nach ISO, IEC, EN oder weiteren Standards vorzuhalten.
Bei der Produktprüfung wird dann nicht nur die Sicherheit der einzelnen Teile, sondern auch ihre Performance in der ganz konkreten Anwendungssituation und ihr Zusammenspiel geprüft. Auch beim Eintreten von Fehlfunktionen, beim Einsatz über längere Zeit oder beim Wechsel vom Netzbetrieb in den Akkubetrieb muss das Gerät für Patient:innen sicher funktionieren.
Stellen Sie sich vor, in einem Medizinprodukt wäre eine Komponente verbaut, die für die Anwendungssituation überhaupt nicht geeignet ist. Nehmen wir als Beispiel ein Heimbeatmungsgerät her. Falls die Stromversorgung ausfällt, muss zeitweise ein geeigneter Betrieb z.B. mit Akkus weiterhin möglich sein. Eine Alarmierung des Patienten muss ebenfalls erfolgen, damit das Medizinprodukt die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen einhält – sonst kann es zum Schlimmsten kommen.
Bei der Produktprüfung prüfen wir das Gerät und seine Komponenten daher auf alle erdenklichen Arten. Wir simulieren Erstfehler, machen Belastungstests und vieles mehr. Das bedeutet aber auch, dass die kritischen Komponenten nicht einfach durch das Produkt eines anderen Zulieferers mit abweichenden Spezifikationen ersetzt werden können. In diesem Fall verfällt die Zertifizierung und damit die Marktzulassung des Medizinprodukts.
Biographie Ralf Schönsteiner, Laborleiter für aktive Medizinprodukte bei TÜV Rheinland, verantwortet unsere Prüflabore für die Produktprüfung von aktiven Medizinprodukten an den Standorten Berlin und Nürnberg. Herr Schönsteiner trägt dazu bei, die Sicherheit und die Performance von aktiven Medizinprodukten nach diversen Normenstandards und regulatorischen Anforderungen sicherzustellen. In den letzten 15 Jahren hat der ausgebildete Elektrotechniker bei TÜV Rheinland in verschiedenen Rollen tiefe Einblicke in die Branche gewonnen, ob als Sachverständiger für aktive Medizinprodukte im Prüflabor, bei der Zertifizierung von Produktprüfungen nach nationalen und internationalen Normenstandards oder als Experte/Auditor vor Ort. |
Was können Hersteller nun tun, wenn die kritischen Komponenten ihres Produkts nicht am Markt verfügbar sind?
Ganz konkret haben unsere Kund:innen die Möglichkeit eine Alternativkomponente für ihr Medizinprodukt nachprüfen zu lassen. Die Komponente muss natürlich alle normativen Anforderungen erfüllen und wird dann in unseren Laboren für das spezifische Medizinprodukt geprüft.
Wenn wir uns die Situation generell anschauen, sind die Handlungsoptionen für Hersteller jedoch begrenzt, wenn das Produkt bereits zertifiziert ist. Verzögerungen und Umsatzeinbußen sind fast unvermeidlich. Wir sollten lieber nach vorne schauen und überlegen, wie solche Probleme in Zukunft vermieden werden können. Bei der langen Entwicklungsphase von Medizinprodukten kann sich die Verfügbarkeit von Komponenten immer ändern.
Ich empfehle Herstellern ganz klar, schon während der Produktentwicklung – sogar schon in der Designphase – mehrere Alternativen für kritische Komponenten zu planen und diese dann im Rahmen der Produktprüfung direkt mit prüfen zu lassen. Für die Laufzeit ihrer Zertifizierung haben sie dann mehrere Komponenten zur Auswahl. So könnten Hersteller beispielsweise auf Zulieferer aus verschiedenen Regionen zugehen, um das Risiko durch Lieferengpässe zu minimieren.
Worauf sollten Hersteller achten, wenn sie auf der Suche nach einer alternativen Komponente sind?
Natürlich müssen die Komponenten die zutreffenden Normen einhalten und idealerweise sollten auch die Prüfberichte schon vorhanden sein. Hier ist es schwierig allgemeine Aussagen zu treffen, denn es gibt unzählige Komponenten, die auch immer für ihren Verwendungszweck betrachtet werden müssen. Es muss also ganz genau geschaut werden, welche Normen anzuwenden sind. Wenn Hersteller da unsicher sind, können sie uns gerne für ein technisches Meeting anfragen, in dem wir uns das Produkt und seine Komponenten genauer anschauen.
Wenn Hersteller ihr Produkt international vermarkten wollen, wird es etwas komplizierter, was die normativen Vorgaben angeht. Im Bereich der Medizinprodukte kennen wir uns jedoch bestens aus. TÜV Rheinland ist mit seinen Expert:innen und Laboren international vertreten. Daher haben wir nicht nur eine hohe Expertise, sondern können Sie auch vor Ort mit der Prüfung von Komponenten oder Produkten unterstützen.
Was passiert, wenn Produkte oder Komponenten bei der Prüfung durchfallen? Was bedeutet das für den Hersteller?
Das ist für den Hersteller leider sehr ungünstig und vor allem teuer. Wenn eine kritische Komponente in der vorgesehenen Verwendung mit dem Medizinprodukt durchfällt, muss er versuchen eine Alternative mit den gleichen Performance-Merkmalen zu bekommen und sein Gerät schlimmstenfalls umdesignen. Das verschlingt enorm viel Zeit und Geld.
Um das zu vermeiden, haben Hersteller die Möglichkeit ihre Komponenten und Geräte auch schon während der Entwicklung prüfen zu lassen. Diese sogenannten entwicklungsbegleitenden Prüfungen sind bei extrem langen Entwicklungsphasen ratsam, damit die Hersteller am Ende keine böse Überraschung erleben. Neben der Evaluierung von Alternativkomponenten bewerten wir zum Beispiel Isolations- und Sicherheitskonzepte oder führen verschiedene Teilprüfungen durch. Welche Dienstleistungen hier Sinn ergeben, muss aber abhängig vom Produkt betrachtet werden.
Was sind die größten „Fallstricke“ bei der Prüfung?
Beim Großteil der Prüfungen passt die Hardware, weil sich die Hersteller in der Regel sehr gut auskennen. Sie sind oft sehr spezialisiert und schon Jahrzehnte im Geschäft. Oftmals haben sie auch schon andere Produkte auf dem Markt, die von uns geprüft wurden. Ein häufigeres Problem sind die Dokumentationen. Bei der EMV-Prüfung ist das Netzteil eine gängige Schwachstelle.
Und bei erfolgreicher Prüfung erhält das Produkt die entsprechenden Prüfnachweise? Warum ist das für Hersteller wichtig?
Medizinprodukte benötigen den Nachweis, dass sie den nationalen und internationalen Anforderungen der Normenreihe IEC/EN 60601-1 mit deren Kollateral- und Partikularnormen entsprechen. Das ist gerade in Europa unbedingt erforderlich, wenn das Produkt durch eine Benannte zugelassen werden muss.
Diesen Nachweis geben wir den Herstellern durch Prüfnachweise entsprechend der anzuwendenden Normreihe oder durch einen CB-Report. Wir bieten Prüfungen im IECEE CB-Verfahren an, das Herstellern einen vereinfachten Weg bietet, um weltweit länderspezifische Zertifikate für ihre elektrotechnischen Produkte zu erhalten.
Warum sollten Unternehmen gerade TÜV Rheinland mit der Durchführung von Prüfungen beauftragen?
Weil Hersteller inzwischen weitestgehend von globalen Lieferketten abhängig sind und sie auch auf zahlreichen internationalen Absatzmärkten aktiv sein wollen, ist die internationale Ausrichtung von TÜV Rheinland sicher ein großer Vorteil. Unsere Prüflabore sind DAkkS akkreditiert. Des Weiteren können wir ihnen Prüfberichte und Zertifikate nach dem IECEE CB Scheme ausstellen.
Für den nordamerikanischen Markt sind wir als Nationally Recognized Testing Laboratory (NRTL) zugelassen. Wir prüfen einerseits die Geräte und Komponenten direkt im Produktionsland und haben andererseits die rechtlichen Vorgaben der Zielmärkte im Blick.
Außerdem haben wir jahrzehntelange Erfahrung speziell im Bereich der Prüfung und Zertifizierung von Medizinprodukten. Wir können dadurch eine flüssige und schnelle Abarbeitung der Aufträge ermöglichen und begleiten unsere Kund:innen gerne von der Konzeptionsphase bis zum Marktzugang.